NSU-Verfahren: Versehen oder Wegsehen?

SDS SOR-SMC diskutiert mit Opferanwalt Dr. Mehmet Daimagüler

Wer hat nicht schon einmal von dem NSU-Prozess gehört? Dem Trio um die Hauptangeklagte und vier weiteren mutmaßlichen Unterstützern werden neun rassistisch motivierte Morde an Ausländern in ganz Deutschland, ein Polizistinnenmord, zwei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle zur Last gelegt.

Fünf Richter, vier Staatsanwälte, 14 Verteidiger und 60 Nebenklägervertreter verhandelten in bisher über 370 Prozesstagen die Taten. Rund 900 Zeugen und Gutachter wurden gehört, die Prozessakten sind auf mehr als 400.000 Seiten angewachsen. Kosten bisher über 65 Mio Euro.

Bei diesem immensen Aufwand sind ja wohl alle taterheblichen Umstände und Beteiligungen dieses empörenden Nazi-Terrors vollständig aufgeklärt worden und alle fünf Angeklagten werden sicher in Kürze ein angemessenes Urteil erhalten, müsste man denken. Gerechtigkeit durchgesetzt. Rechtsfrieden wieder hergestellt. Akte zu. Fall erledigt. Wirklich?

Am 23.03.2018 nahmen rund 150 Schülerinnen und Schüler (SuS) der SDS aus sechs Klassen an dem Vortrag von Dr. Mehmet Daimagüler, NSU-Opferanwalt, über den Prozess mit anschließender Diskussion teil. Die Veranstaltung mit dem Titel von Daimagülers gleichnamigen Buch „Empörung reicht nicht!“ fand auf Initiative von Schülersprecher Jonas Schmidt statt und wurde von Susanne Vögtler und Johannes Fey von ‚Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage‘ (SOR-SMC) koordiniert und von der Friedrich-Ebert-Stiftung finanziert.

Begrüßung. In seiner Begrüßung reihte Schulleiter Rainer Strack die Veranstaltung in eine Reihe thematisch vergleichbarer Aktionen der SDS unter der Federführung des SOR-Teams ein: „Der Tag heute dient vor allem dazu, die Gräueltaten des NSU zu verarbeiten, nicht zu vergessen und ganz besonders wach zu rütteln. Wir wollen damit dem Hass entgegenwirken und für Demokratie eintreten.“

Vortrag. In seinem Vortrag skizzierte Mehmet Daimagüler die wesentlichen Fakten zu der Anklage und dem Prozessverlauf, um die Dimension dieser Tatserie bewusst zu machen.

Er erläuterte die Aufgaben eines Strafverfahrens, dessen Aufgabe sich nicht darin erschöpft, ein verurteilendes Urteil zu sprechen. Seine Ziele bestehen darin, die vollständige Wahrheit zu ermitteln, um Gerechtigkeit zu erreichen, den staatlichen Strafanspruch in einem rechtsstaatlichen Verfahren durchzusetzen und die Wiederherstellung des Rechtsfriedens und Gewährung von Rechtssicherheit zu bewirken.

Daher hat der Staat bei Hassverbrechen eine besondere Pflicht, jeden Stein umzudrehen und zu versuchen, alles aufzuklären. Es reiche nicht, die Beteiligten zu verurteilen und dann die Akte zu schließen. Dies liege auch nicht im Interesse der Angeklagten. Für die Opfer und Hinterbliebenen sei nicht die Höhe der Strafen entscheidend, sondern die vollumfängliche Aufklärung. Sie wünschten sich vor allem Antworten auf die Fragen, aus welchen Beweggründen ihre Verwandten ermordet wurden.

Der Staat habe im NSU-Fall nicht alle offene Punkte geklärt. Zentrale Fragen sind weiterhin unbeantwortet. Dies machte Daimagüler an drei entscheidenden Themenkomplexen deutlich.

 

  1. Größe des NSU. Die Bundesstaatsanwaltschaft verfolgte von Anbeginn an die „Trio-These“. Sie besagt, dass es sich lediglich um drei Mitglieder handelt, die hauptsächlich alleine agiert haben. Dem entgegen stehen jedoch Indizien und Beweise, die allerdings für das Verfahren ungenutzt blieben. So sind beispielsweise neben den vier Mitangeklagten 24 weitere Zeugen vernommen worden, die nachweislich Kontakt zum NSU hatten und ihn unterstützten. Außerdem wurde der Polizistinnenmord in Heilbronn nur zwei Tätern zugeschrieben, obwohl Zeugen mindesten drei weitere Tatbeteiligte oder –helfer gesehen haben.
  2. Rolle der Geheimdienste. Der NSU ging aus dem Thüringer Heimatbund hervor, einer bekannten Neonaziorganisation. Die Geheimdienste hatten innerhalb dieser Organisation ca. 25% V-Männer eingeschleust, waren aber trotzdem nicht in der Lage, die Taten des NSU zu verhindern oder auch nur zu entdecken. Namentlich der V-Mann Tino Brandt, Neonazi und wegen anderer schwerer Straftaten bereits mehrfach verurteilt, war eine wichtige Führungsfigur im Thüringer Heimatbund. Mit staatlichen Geldern, die er als V-Mann erhielt, wurde der Thüringische Heimatbund und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der NSU finanziert. Ohne diese Finanzmittel hätte es die Organisationen in dieser Stärke gar nicht gegeben. Dies sei auch der Grund, warum die Bundesanwaltschaft auf der Trio-These beharre. Ähnlich das Bild im Fall des V-Mann-Führers Andreas Temme. Obwohl er beim Mord im Internetcafe des Opfers anwesend war, habe er nichts von der Tat mitbekommen und den am Boden liegenden Getöteten nicht gesehen. Ermittlungen wurden auf Weisung eingestellt und abgehörte Telefonate gelöscht. Daraus ergebe sich die Erkenntnis, dass der Verfassungsschutz nicht Teil der Lösung sondern Teil des Problems sei.
  3. Rassismus. Die Ermittlungen liefen in den meisten Fällen in die falsche Richtung; sie waren immer gegen die Angehörigen der Opfer gerichtet. Die Taten wurden zum Beispiel dem Drogenmilieu zugeordnet oder Clanfehden verantwortlich gemacht, die vornehmlich in bestimmten Herkunftsländern bekannt seien. Daimagüler folgerte, dass als Erklärung hierfür nicht allein Ermittlungspannen verantwortlich seien, sondern ein institutioneller Rassismus, der die Gruppe der Tatverdächtigen auf eine bestimmte kulturelle und religiöse Herkunft reduziere.

Diskussion. In der nachfolgenden angeregten Diskussion konnten die SuS viele weitere Details zum Prozess erfahren. Justin Heidemann, 11VSb: „Am stärksten beeindruckt und überrascht hat mich, dass die Terrororganisation sehr viele Verbündete hat und gut organisiert war.“ Stellvertretend auch für die anderen SuS befand Edona Bytyqi, 11VSb: „Einnehmend und bewundernswert war die offene Art des Herrn Daimagülers, seine freie und interessante Art zu erzählen und die Tatsache, dass er alle Daten, Vorgänge und Namen zu den Ereignissen auswendig kannte.“

Résumé. Daimagüler, der sehr früh die Morde der rechtsradikalen Szene zugeordnet hatte, führte zum Ende selbstkritisch aus, dass er damals aus Feigheit und Opportunismus geschwiegen habe. Er appellierte deshalb an die Anwesenden, den Mund aufzumachen, bevor so etwas konkret wird: „Es ist elementar für eine demokratische Gesellschaft, sich mit Minderheiten zu solidarisieren“ und fuhr fort: „Diese Land ist ein gutes Land, dieser Rechtsstaat ist ein guter Rechtsstaat,“ aber auch dieses Land sei nicht perfekt und deshalb müsse man gemeinsam für die Demokratie einstehen.

Diese Schlussworte stehen ganz im Sinne des Gedankens eines aktiven SOR-SMC: Bei Versehen trotzdem genau hinschauen aber niemals wegsehen.

Wir danken dem Initiator Jonas Schmidt, für die Organisation dem SOR-SMC-Team um Susanne Vögtler und Johannes Fey, für die Finanzierung der Friedrich-Ebert-Stiftung, für die Bereitstellung des Raumes dem Schulleiter Andreas Kirschner von der Friedrich-Ebert-Schule und Herrn Dr. Mehmet Daimagüler für diesen so authentischen wie wichtigen Beitrag.

(Johannes Fey, Petra Hilbert)

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